Monika Dia-Schübel:
Körperliche Gesundheit ist von psychischer Gesundheit nicht zu trennen: Körperliche Leiden spiegeln häufig psychische Leiden wider. Diesen Ansatz zum ganzen Menschen hat im Westen Wilhelm Reich entwickelt. Seine Karriere begann er als Schüler Freuds, der den Körper in seiner Arbeit ignorierte. Wilhelm Reich integrierte Berührung und Körperarbeit in den therapeutischen Prozeß und stellte seine Arbeit in den Rahmen einer sozialistischen Perspektive. Er glaubte, daß die Art wie wir aufwachsen und erzogen werden, sich in unseren Körpermustern und Strukturen widerspiegelt. Ein Junge beispielsweise , dem beigebracht worden ist nicht zu weinen, lernt schließlich seine Lippen anzuspannen und seinen Rücken zu verkrampfen, um sich am Weinen zu hindern. Diese Spannung wird sein Leben lang zum festen Bestandteil seiner muskulären Strukturen. Ein Kind , das zu früh übermäßig viel Verantwortung übernehmen mußte, entwickelt möglicherweise runde Schultern. Ein Kind, das einem rigorosen Sauberkeitstraining unterworfen wurde, wird vermutlich seine Gesäßmuskulatur verkrampfen, was sich in Übergewicht oder in Verstopfung widerspiegeln kann.
Reich war der Auffassung, daß wir bei einer Fixierung dieser psychischen Einschränkungen in Form von Muskelblockierungen direkt am Körper arbeiten müssen. Die entsprechenden Muskelspannungen werden gelockert, damit sich rigide Verhaltensmuster lösen und die Gefühle, die seit der Kindheit unterdrückt wurden, wieder freigesetzt werden. Reich glaubte, daß unsere Vitalität und die Fülle unseres Gefühlslebens von einem rhythmischen Energiestrom in unserem Körper abhängt. Als Resultat unsere Erziehung wird dieser Strom von Blockierungen , Spannungen und Gefühllosigkeit in verschiedenen Teilen des Körpers aufgehalten. Wir werden ebenfalls an der Fähigkeit voll zu fühlen und das Leben zu genießen voll gehindert. Reich beschrieb diese Blockierungen als eine Panzerung , die wir ausbilden, nicht nur um uns vor schmerzlicher Erfahrung zu schützen, die andere Leute uns zufügen könnten, sonder auch vor verbotenen Impulsen, die aus uns hervorzubrechen drohen. Er verwies auf eine Unmenge an Energie, die wir vergeuden und verausgaben, einfach um uns zu unterdrücken, uns vom Weinen, Wüten, Tanzen oder was auch immer wir als Kinder zu tuen gehindert wurden, abzuhalten. Er glaubte an ein Gleichgewicht zwischen Input und Output an Energie aus unserem Körper: Falls der Output an Energie wegen unserer Blockierung gering ist, beschränken wir den Input an Energie dementsprechend, indem wir oberflächlich atmen oder uns von Menschen und Situationen fernhalten. Reich wollte die Spannungen lösen um das Niveau des Energiestromes anzuheben. Um dies zu erreichen half er der betreffenden Person, dem Körper mehr Energie zuzuführen, z. B. durch tiefes Atmen . Die gelösten Spannungen wurden dann meist von heftigen Gefühlsausbrüchen begleitet, wie Wut oder Trauer, aber auch Freude und Lachen. Reich machte auch direkte Massagen an verspannten Körperbereichen um die Blockierungen aufzuheben. Er fand dabei heraus, daß mit Hilfe eines bestimmten sensiblen Drucks auf den verspannten Muskel, dieser gelöst werden konnte. Auf diesen Vorgang folgte häufig ein Durchbruch von Gefühlen und ein Aufdecken damit verbundener Kindheitserinnerungen. Dies geschah auf einer tiefen emotionalen und körperlichen Ebene mit den sie begleitenden jeweiligen Bewegungen oder Lauten, die damals zurückgehalten wurden, wie treten oder schreien, und die betreffende Person kann die Muskelpanzerung in ihrem Körper aufbrechen. Damit hebt sich das Energieniveau, wird Selbstausdruck möglich, fließt der Strom an Gefühlen wieder in den Körper und ermöglicht damit in der Folge eine Verhaltensänderung in der aktuellen Situation. Reich sah in der Fähigkeit, einen körperlich und psychisch voll empfundenen sexuellen Orgasmus zu erfahren, ein wichtiges Anzeichen körperlicher Gesundheit, das darauf hinweist, daß Energie frei durch den Körper strömt. Er sah im sexuellen Akt ein Schlüsselventil für das Freisetzen und die Regulation des hohen Energieniveaus eines gesunden Menschen.
Reich sah sehr deutlich die Verbindungen zwischen den spezifischen körperlichen Blockierungen, die wir beschrieben haben und den hemmenden oder repressiven Faktoren bei der Arbeit in unserer Gesellschaft ganz allgemein. Diese Beziehungen sind komplex oder im Sinne der modernen Systemtheorie systematisch, d. h. einfach ausgedrückt, daß alle Phänomene des Lebens mit einander verbunden, verwoben sind, wie das Netz einer Spinne.
Eine Gesellschaft, die disziplinierte und gehorsame Arbeitskräfte für die Arbeit in Fabriken benötigt, wird den Kindern beibringen, Vorschriften nicht in Frage zu stellen und nicht zu widersprechen; eine Gesellschaft, die sich auf Familien abstützt, die aus treuen ehelichen Partnerschaften zwischen Mann und Frau besteht, bzw. Sexualität nur in der Ehe stattfinden darf, wird die Jugendlichen dahingehend erziehen, ihre sexuellen Impulse außerhalb diesen Rahmens unter Kontrolle zu halten; eine Gesellschaft, die von Männern erwartet, daß sie Kriege führen und für den Unterhalt einer Familie hart arbeiten, wird die kleinen Jungen lehren, nicht zu weinen , hart zu sein und ihre zärtlichen Gefühle zu unterdrücken; eine Gesellschaft, die von Frauen verlangt, daß sie einen Großteil ihres Lebens der Fürsorge für Männer und Kinder widmen , wird den kleinen Mädchen beibringen, Freude am Dienst am anderen zu haben und selbstbestätigende oder aggressive Gefühle zurückzuhalten. Dieser Konditionierungsprozeß , der die Kinder lehrt, sich selbst so einzuschränken, daß sie später akzeptable Mitglieder der Gesellschaft werden, ist subtil und vollzieht sich häufig unbewußt, da Eltern , Lehrer und andere Personen in Autoritätspositionen ihre eigenen Verhaltensnormen so weitergeben und durch das eigenen Beispiel wirken. Da die Eltern selbst blockiert sind und sich nicht lieben, können sie sich auch nicht auf liebevolle und gütige Weise auf ihre Kinder beziehen. Statt dessen behandeln sie ihre Kinder wie Objekte und bringen ihnen bei , ihren eigenen Körper abzulehnen und zu fürchten. Reich sah in einer positiven Identifikation mit dem Körper die Basis der Selbstachtung. Abgeschnitten vom Körpergefühl und sich vor dem eigenen Körper ängstigend hat der Mensch unvermeidlich Angst vor dem Leben.[1]
In den Gefühlen der Angst, Leere und Selbstverachtung sah Reich mächtige Faktoren, die zu nationalen Chauvinismus und Faschismus beitragen. Er glaubt, daß der Chauvinismus sich von der körperlichen Starrheit ableiten läßt. Das Kleinmachen und der Haß und die Verachtung die im Nationalsozialismus den Juden entgegengebracht wurde, beschreibt er als eine symbolische Selbstverlagerung oder Übertragung des Eigenhasses, der Selbstverachtung. Der Jude symbolisiert das , was Dir beigebracht wurde in Dir selbst zu hassen und zu unterdrücken.[2](Reich S. 183-187)
Reich sagt, nur eine gute Beziehung zum Körper läßt uns zu unserer Stärke finden und fähig werden , die Verantwortung für unser eigenes Leben zu übernehmen, anstatt blind irgendwelchen Führerpersönlichkeiten zu folgen. Daraus folgt, daß ein Mensch mit einem gesunden unblockierten Körper, in dem die Energie frei strömt und der mit seinem eigenen Leben und seiner Kraft in Berührung ist, unangepaßt und mit der heutigen Gesellschaft in Konflikt stehen muß.
[1] vergl. Wilhelm Reich: Charakteranalyse , Kiepenheuer und Witsch 1970 Köln
[2] vergl. Wilhelm Reich: Die Entdeckung des Orgons Bd. 1 Kiepenheuer und Witsch 1987 Köln